2009_11_Novosibirsk_000Die Frage wie Zootiere durch den sibirischen Winter kommen, sind Ralfs Motiv, den Zoo von Novosibirsk zu besuchen. Bevor er seine Dokumentation beginnt, nähert er sich Stadt und Bewohnern an.

Es beginnt mit einem Tipp-Fehler. Natürlich will ich kurz vor meinem Abflug im November von der wissen, wie das Wetter denn so sei, auf was ich mich einstellen müsse. Lapidare Antwort von der Zoodirektion in Novosibirsk: „-50 C“. Wie bitte?!! O.k., Sibirien: Minusgrade. So mit -15 oder -20 hatte ich gerechnet. Aber -50 C? Da will ich dann doch noch einmal nachfragen. Die nächste Mail klärt einen Fehler, einen Schreibfehler: Die „0“ in der „50“ ist gar keine Null, sondern eigentlich das Gradzeichen. Süß: Der kleine hochgestellte Kreis ist anscheinend geschmolzen, auf die Grundlinie der „5“ gerutscht und dann wie ein Schneekristall unter Frosteinwirkung gewachsen. Nun denn, „-5°C“ das erscheint erträglich, der Extremfrostalarm ist erst einmal aufgehoben. „-5°C kann man als milde Winter gewöhnter Mitteleuropäer überleben.

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Was hilft mehr gegen die Tristesse, der Kunstkaktus oder die Schneefamilie?

Ich komme im Hotel „Zentralnaya“ unter, also im Hotel Zentral, gleich beim Leninplatz mit der großen Oper. Das Hotel ist ein brauner Klotz von einem Bau, mit sechs Stockwerken und einer Front, in der je Etage mehr als 20 Fenster liegen. Ich bin im sechsten Stock untergebracht. Nach der Fahrstuhltür geht es rechts, gefühlte 50 Meter einen Gang entlang, links und rechts die Zimmer, Kasernenatmosphäre. In einem der Zimmer – die Tür steht auf – sitzt die Etagenaufsicht. Später entdecke ich mehr von diesen mittelalten Frauen in blauen Kittelschürzen und mürrischem Blick. Sie sehen alle aus als könnten sie zupacken. Sie sind auch die Hüterinnen der Toilettenpapierrollen auf den Gangklos. Ich habe vollstes Vertrauen.

Ein Bär von einem Russen kommt mir im Gang entgegen geschlurft. Sein ärmelloses Ripp-Unterhemd kann seine Brusthaare nur mäßig zusammenhalten. „Heil Hitler“ ruft er mir schon von weitem entgegen. „Niet Hitler“, schüttel‘ ich den Kopf. Er wirkt fast enttäuscht und legt gleich mit der nächsten Frage nach: „Faschist?“ „Nix Faschist“ klopfe ich ihm auf die Schulter und mache einen auf Kumpel. Im Stillen bin ich froh, dass ich die Etagenaufsichtsfrauen in Rufweite weiß.

Auf dem Zimmer beschäftigt mich noch einmal das Klima. Draußen hat es nur enttäuschende -2°. Das verrät mir eine Anzeige nahe des Leninplatzes. In meinem Raum ist es sogar unerträglich heiß. Sogleich untersuche ich den Heizkörper. Aber nein, da ist kein Regler dran. Die Flurfrau muss helfen, denke ich. Herbeigeholt weiß sie sofort, was zu tun ist. Sie öffnet zunächst das innere der beiden Fenster und dann ein etwa 30 mal 30 Zentimeter großes Fensterchen im rechten, oberen Eck des Außenfensters, das mir noch gar nicht aufgefallen war. Ungehindert strömt nun die Frostluft nach innen. Keine Frage: Das ist hier die Methode mit der man die Zimmertemperatur reguliert. Während meines gesamten Aufenthalts brodelt hier die Heizung, Tag und Nacht, und sehr wahrscheinlich tut sie das den ganzen Winter lang. Wohl auch in den anderen Zimmern des riesigen Zentralhotels. Und vielleicht auch in anderen Gebäuden der Stadt … nicht auszumalen …

Kyrillisch für Anfänger: Das "P" wie "R", das "C" wie "S", das "H" wie "N".

Kyrillisch für Anfänger: Das „P“ wie „R“, das „C“ wie „S“, das „H“ wie „N“ – Restoran, also Restaurant!

Durch die Stadt: Das Straßenqueren ist ein besonderer Spaß. Rechts neben dem Ampelmann ist die Ampeluhr. Steht die Ampel auf Rot, zählt die Uhr rückwärts in roten Zahlen. Springt sie schließlich auf Grün um, zählt sie runter in grünen Zahlen. Sie geben Dir jeweils 40 Sekunden. Das weckt den Spieltrieb: 40 grün und los. Die Gehgeschwindigkeit so wählen und halten, dass du drüben, auf der anderen Seite, den Randstein bei „0“ überschreitest. 40 Sekunden: Das klingt total viel für eine Straßenquerung. Für Trödeln reicht’s trotzdem nicht. Dafür sind die Ampeluhr-Boulevards der Reißbrettstadt Novosibirsk einfach zu breit.

In den Straßen fällt mir auf wie die Leute Blicke meiden. In verschiedenen Situationen, wenn es mir angebracht erscheint, biete ich mein mitteleuropäisches Small-Talk-Lächeln auf. Es wird selten erwidert. Einmal fällt einem Kind eine Platikflasche herunter. Ich stehe gerade dabei, hebe sie auf und reiche sie der Mutter. Auch hier keine Kontaktaufnahme per Blick, kein Danke. Was ist hier los, frage ich mich.

Die Frauen – auch wenn sie einen nicht angucken – lenken ab. Schön sind sie und elegant – vielleicht teilweise zu gewagt elegant. Ihre Stöckelstiefel knacken das Gehwegplatteneis: Umknickgefahr! Oben herum tragen sie alle Pelz: Zobel, Nerz, Polarfuchs – mit langen Haaren, geschnitten, mit Mustern. Tierschützer würden sich hier den Mund pelzig reden.

Bahnhofsvorplatz Novosibirsk

Bahnhofsvorplatz Novosibirsk

Ich will die Züge der Transsib sehen. Wegen dieser und dem Übergang über den Ob ist das moderne Novosibirsk mit seinen heute rund 1,5 Millionen Einwohnern ab 1893 überhaupt erst entstanden. Ich stelle also die innere Weiche Richtung Bahnhof, der nicht weit vom Hotel gelegen ist. Auf dem Bahnhofsplatz fahren Lastwagen zusammengeschobenen Schnee ab. Zwei kleine Hunde kuscheln sich in einer Pappschachtel zusammen. Frauen mit Kopftüchern sind in mehrere Lagen Schürzen gehüllt. Sie verkaufen Eingemachtes in Gläsern.

Eisenbahnwagons wie kaputte Eisschränke

Eisenbahnwagons wie kaputte Eisschränke

Im Bahnhofsgebäude über dem Ticketschalter hängt eine Leuchtreklame, wohl schon seit Sovjetzeiten: ein vergilbtes Paar lädt ein, eine Reise zu tun. Nach Moskau sind es von hier, dem Mittelpunkt Russlands, 3303 Kilometer. Da wollt‘ ich jetzt nicht hin, mir reicht, das Treiben an den Gleisen zu betrachten. Aus einzelnen Wagons raucht es wie aus Lokomotiven. Das werden wohl Heizungsschlote sein. Und sie sind das einzige, das Mut machen könnte, die Wagons zu besteigen. Ansonsten wirken die Wagen nämlich wie überdimensionierte, undichte Eisschränke, die mit Schneeharsch und gefrorenem Schmelzwasser überkrustet sind.

Ob die Lieben halten? Liebesbekenntnisse am Großen Strom

Ob die Lieben halten? Liebesbekenntnisse am Großen Strom

Zuletzt an diesem Nachmittag zieht es mich ans Ufer des Ob. Auf dem Weg liegt die St. Nikolaus-Kapelle, die nun das Zentrum Russlands punktgenau markieren soll. Unterhalb, schon in der Nähe des Flusses, quere ich brachliegendes Gelände. Ein Hund streunt vorbei; einen zweiten erschrecke ich, als ich am Ende einer Mauer in Sicht komme. Ich sage cool „hallo“ und greife im selben Moment zur Pfefferspray-Dose, die ich in der Hosentasche dabei habe. Die Hunde beachten mich nicht weiter.

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Die Puppen tanzen auch auf russisch.

Auf einer Skater-Rampe steht „freedom“. Aber jetzt bei Eis und Schnee muss der Drang nach Freiheit woanders ausgelebt werden. Etwas unterhalb auf einem Parkplatz bei der Eisenbahnbrücke Kopf lässt ein Paar die Scheiben seines Kleinwagens beschlagen. Auf der gegenüberliegenden Seite stöhnt ein Lada. Zwei Jungs drehen mit gezogener Handbremse Pirouetten.

Es ist längst dunkel als ich zum Hotel zurückkehre. Gelohnt hat sich’s: Ist eine spannende Sache, so ein erster Spaziergang durch eine fremde Stadt mit dem Blick für viele kleine Details.

Anderntags beginne ich meine Dokumentation im Zoo.

Sibirischer Steinbock

Mit extrem langem Bart: Sibirischer Steinbock

 

Tigeriltis

Wuselt von Osteuropa bis China durch die Steppe: der Tigeriltis

 

Ein "Liger"

Ein „Liger“: die Kreuzung aus Löwe und Tiger

 

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Vorsicht vor der Tatze!

 

Weißer Tiger

Einem weißen Bengal-Tiger macht die sibirische Kälte offensichtlich nichts aus.

 

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Jedes Haus ein Unikat: Die Vogelhaussammlung im Zoo von Novosibirsk

 

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Das spezielle Winterlicht bei den Blauschafen täuscht über die Tristesse des Eisenbarren-Geheges nicht hinweg.

 

Habichtskauz

Ein Habichtskauz wird eins mit der Winterkulisse, die ihn umgibt.

 

Gepard

Ein mürrisch blickender Gepard trotzt dem Schnee.

 

Schneeschaf

Unikat und Lieblingsmotiv: Aufnahmen von Schneeschafen – hier ein Hybrid aus einem Kamtschatka-Schneeschafwidder und einem Altai-Argali-Schaf – sind extrem selten.

 

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Zoodirektor Rostislav A. Shilo (links) lädt ein.

 

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Im Magazin „Zoon“ ist die komplette Geschichte erschienen.