Das vielleicht berühmteste Wildtier der Welt ist in Zoos und Aufzuchtstationen Publikumsliebling. Öko-Touristen können den Bambusbären auch in der chinesischen Wildnis erleben.

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Ein frisch gelegtes Panda-Ei neben meinem Stiefel

Drei grüne Eier – endlich. Die haben wir uns erhofft. Schön sehen sie aus: spinatgrün, mit glatter Oberfläche, in die deutlich erkennbar Bruchstücke von Blättern eingebettet sind. Gelegt hat sie ein Bambusbär. Bis zu 20 Kilogramm produziert ein erwachsenes Tier davon täglich. Wir sind nicht gekommen, um den Panda-Shit einzusammeln wie das etwa im Chiengmai Zoo gemacht wird, um daraus „Panda-Paper“ herzustellen, ein Souvenir, mit dem der Tierpark 60.000 Yuan (ca. 7.000 Euro) jährlich umsetzt.

Wir freuen uns über die frischen, völlig geruchlosen Kotbollen, weil wir nun der „wohl bekanntesten bedrohten Tierart der Welt“ (Inside Beijing) ganz nahe sind. Und das wollen wir sein. Und zwar nicht in den Zoos von Chiengmai, Berlin oder Wien – oder sonst einem der wenigen Tiergärten die Pandas halten, sondern in der Wildnis der Qinling-Berge in Zentralchina, um – so hoffen wir – ein ganz besonders bäriges Naturerlebnis erleben zu dürfen.

Pandakot: Das bedeutet auch Arbeit für unsere vier „Tracker“ von Wild Giant Panda in der zoologischen Station Sanguanmiao: Mr. Li, Mr. He und zweimal Mr. Feng. Die einheimischen Spurensucher schwärmen jeden Morgen in der Umgebung der Station aus und suchen in den Haupttälern danach. Natürlich achten sie auch auf andere Anzeichen der schwarzweißen Bären: Tatzenabdrücke im Lehm, abgebissene Bambusstengel, Kauspuren an den Halmen. Sind sie gefunden, schlagen sich die Tracker in den Bambusbusch und arbeiten sich die Hänge hinauf, auf der Suche nach noch frischeren Spuren.

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„Rolph“ zeigt einen abgebissenen Bambusstengel.

Während Mr. He und Co im Busch unterwegs sind, heißt es für uns sechs Panda-Touristen und unseren englisch-sprechenden Führer warten. Ist ein Panda aufgespürt, werden wir per Funk verständigt. Wir alle sind naturkundlich sehr interessiert, da kann es einem mitten in Wald gar nicht langweilig werden. Da sind Bäume und Vögel zu bestimmen und natürlich gibt es tausend Fragen zu den Pandas.

Unser englisch sprechender Führer „Rolph“ stellt sich als echter Glücksfall und sehr motivierter „Naturalist“ heraus. (Er ist so stolz auf seinen englischen Namen, den er sich selbst gegeben hat, dass wir nach seinem eigentlichen Namen gar nicht fragen möchten.) Da die grünen Panda-Eier hier überall herumliegen, liegt es nahe, erst mal ein bisschen Eierkunde zu betreiben.

Panda-Kot verrät viel: Ist seine Oberfläche klebrig, wurden sie vor zwei bis drei Stunden abgesetzt (im Winter), sind sie noch warm, sind sie höchsten zwei bis drei Minuten alt. Ist der Pandakot nach Tagen und Wochen getrocknet, zerfällt er zu einem grünen Haufen, der losem Grüntee nicht unähnlich ist. Grobes Material hinterlassen alte Bären mit ihren stumpfen, abgenutzten Zähnen; Jungbären-Shit ist feiner gemahlen. 99 Prozent des Kots besteht aus grob verdautem Bambus. In dem einen Prozent weisen Panda-Forscher, die die Begabung haben, Nadeln in Heuhaufen zu finden, auch mal Knochen kleiner Wirbeltiere nach. Aber im Prinzip gilt: Was dem Beutelbär sein Eukalyptus und der Eierschlange ihre Eier, ist dem Bambusbär sein Bambus. Extremere Nahrungsspezialisten kennt die Welt der Wirbeltiere wohl kaum.

Frisst der Panda, sind die Spuren, die er hinterlässt in Form von abgebissenen Stängeln auffällig; macht er Strecke, muss man sich an die Trittspuren halten. Aber die zeichnen sich im Bambus-Dschungel keineswegs deutlich ab. Das sind keine Spuren mit scharfen Kanten. Der Boden ist bedeckt von einem dicken Streupolster aus Bambuslaub, das den Tritt eines Pandas wie eine Matte abfedert. Das heißt, wenn maximale 125 Panda-Kilos, auf vier Pfoten verteilt, durch den Bambuswald tapsen, hinterlässt das höchsten untertellergroße flache (sehr flache!) Kuhlen am Waldboden. In der Regel reichen diese aber einem Mr. He oder Mr. Li dennoch, um ihnen anzuzeigen, wohin sich der Bär getrollt hat. Kommen die Tracker doch einmal von der Spur ab, mäandern sie in langen Linien und kurzen Bögen, senkrecht zur vermuteten Laufrichtung des Bären den Hang hinauf – solange bis sie wieder auf eine Spur stoßen.

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Schroffe Bergwelt der Qinling Berge

Was für ein Knochenjob! Denn nicht nur ist die Topografie der bis zu 3.767 Meter Qinling-Berge (Mount Taibai) sehr fordernd; jetzt im Winter schmilzt der Schnee auf den immergrünen Bambusblättern, die Tropfen saugen sich wie Zecken in die Kleidung und Stoffschuhe der Spurensucher. Nach nur wenigen Metern sieht deshalb ein Panda-Tracker aus wie ein zu lang gewaschener Waschbär. Im Sommer sind es Blutegel, die den Trackern zusetzen, aber dann ist keine Panda-Saison, weil sie sich fürs große Bambusfressen fast unereichbar weit nach oben in die Höhenlagen zurückziehen.

Mit meinem Guide unterwegs: Trekking in den Qinling Bergen kann manchmal ganz schön fordernd sein.

„Rolph“ muss seinen Vortrag zu den Panda-Fakten aus Aktualitätsgründen immer wieder unterbrechen: für einen Trupp Goldfasane (Chrysolophus pictus), für den Stummelscherenschwanz (Enicurus scouleri) im Bachbett, der hier die ökologische Nische unserer Bachstelze besetzt oder den prächtigen Himalaya-Rotschwanz (Phoenicurus frontalis), der wie der mitteleuropäische Kollege gerne mit dem Schwanz wippt. Die Qinling-Berge breiten sich auf 55.000 Quadratkilometern aus – was der zusammengelegten Fläche von Baden-Württemberg und Hessen entspricht. Hier sind phänomenale 228 Vogelarten nachgewiesen, so viele wie es bei uns in ganz Deutschland gibt. Die Qinling-Berge sind Biodiversitäts-Hotspot, weil hier zwei Faunenreiche verschmelzen: Paläarktis und Paläotropis. Aber die Qinling-Berge trennen auch: das Wetter, das Klima, den Weizen- vom Reisanbau und überhaupt den Norden vom Süden.

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Entlang des Pfads stehen Abfalleimer. Sie sind aus Beton in Form von Baumstrünken erbaut. Sie haben jeweils oben und seitlich, unten eine Öffnung und können deshalb auch als Ofen verwendet werden. Die Guides wärmen sich daran.

Die Tracker kommen zurück und zünden den Inhalt eines Müllkübels an, der hier nicht weiter aufgefallen ist. Er ist aus Beton in Form eines Baumstumpfs gestaltet und bemalt. Er hat nicht nur oben ein Loch, wo man den Abfall einwirft, sondern auch an der Basis der Rückseite, was das Ding zum Ofen macht. Bald glüht er durch und durch, und die Chinesen hocken in typisch asiatischer Art – Hosenboden auf den Hacken – drum herum. Keiner von uns Touris entwickelt Kolonialherren-Allüren und macht etwa Versuche, die Chinesen weiter anzutreiben. Wir einigen uns darauf, die Panda-Suche für heute bereits zu beenden und zur Station zurückzukehren.

Gegen zwei mache ich mich noch einmal alleine auf. Ich verlasse die Station via Hintertür, dort wo auch die Hühner durchschlüpfen, um sich die Küchenabfälle der Station zu hohlen. Ich muss über die Felder einer Bauernfamilie, sehe weitere Fasane auf den Feldern – die lokale Form des Ringfasans (Phasianus colchicus strauchi) – und denke sofort, dass das absolute Jagdverbot wohl greifen muss, sonst hätten die fetten Wildvögel hier kein Auskommen. Wildtiere scheinen hier im Schutzgebiet Foping, das die chinesische Regierung bereits 1978 eingerichtet hat, tatsächlich Vorrang zu haben.

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Goldtakin im Zoo von Beijing

Ich habe den Rand des Bambuswaldes noch nicht erreicht, da fühle ich es in mir aufsteigen – jetzt da ich alleine bin: Respekt. Das wird kein Spaziergang, zum Abschalten oder Erholen. Das ist Vordringen in fremdes Terrain. Es gehört nicht nur den Pandas, sondern auch Leoparden, Kragenbären und jetzt im Winter vor allem den Takinen, den bis zu 400 Kilogramm schweren Rindergämsen, die es angeblich nicht leiden können, wenn man ihnen im Weg rumsteht.

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Südchina-Tiger im Zoo von Shanghai. In den Qinling-Bergen sind Tiger ausgerottet.

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China-Leopard. Die „Tracker“ im Foping Reservat berichten nur von Spuren, die sie gelegentlich finden.

Ich fühle mich als Gast in der Wildnis, ahne aber, dass die potentiell gefährlichen Tiere, im Fall des Falles das anders sehen. Ich will Natur erfahren, will sie sehen, riechen, spüren. Es ist im Prinzip nichts anderes wie gebratenen Reis mit Morcheln zu essen oder die Trommeln des „Drumtowers“ in Xi’an zu zählen. Es ist konsumieren mit den Sinnen. Es ist Reisen. Und natürlich kann es gefährlich sein, aber solange ich hier im Wald stehe, denke ich, sterbe ich schon nicht den Verkehrstod – laut WHO das Schicksal von 1,2 Millionen Menschen weltweit, jährlich.

Und wie gefährlich ist es nun tatsächlich, sich unter die Tiere des Qinling-Bergwaldes zu mischen? Die Leoparden machen sich extrem rar. Außer Tatzenabdrücken bekommen auch die Tracker nichts von ihnen zu sehen.  Tiger gab es früher mal. Sie sind ausgerottet. Kragenbären benutzen immer wieder mal gerne die von den Menschen angelegten Pfade. Wenn sich Bär und Mensch begegnen, erschrickt man sich schon mal gegenseitig. Andernorts in Asien, hat’s dann auch schon mal gekracht; hier kann sich keiner an einen Bären-Unfall erinnern. Bei den Takinen ist das anders.

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Takin-Shit: mein Ring (Ø: 2 mm) im Größenvergleich

Tracker He wusste in der Mittagspause auf Anhieb gleich vier Geschichten zu erzählen: Story Eins ist die eines Reiters, den ein Takin attackiert, vom Pferd und in den Bach wirft.  Mr. He selbst griff ein Takin auf dem Weg ins Nachbardorf an. Zusammen mit Frau, zwei Töchtern und einem Bekannten rettete er sich auf einen Felsen. Der Takin verletzte drei der fünf durch Kopfschläge. Mit blauen Flecken, Kratzern und dem Schrecken kamen sie davon. Der dritte Fall ist kurios: Ein einheimischer Sammler mit einem Tragekorb auf dem Rücken wird von hinten angegriffen. Die Hörner des Takin dringen in den Korb ein; der Takin hebelt den Mann aus und schiebt ihn durchs Unterholz. Dabei wird dem Mann tragischerweise ein Ohr abgerissen. Der Takin schüttelt ihn schließlich ab.

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Ein Goldtakin durchwatet ein Bachbett im Foping Reservat. Foto: frenchconnection

Der letzte Unfall ereignete sich am 13. Februar 2010 beim Frühlingsfest. Ein vermutlich alter, kranker Takin zeigt sich in Dorfnähe am Fluss. Die Bewohner laufen auf einem Hügel zusammen, um das Tier am selben Flussufer, aus sicherer Distanz beobachten zu können. Einer der Takin-Interessierten, ein Besucher von außerhalb, nähert sich der Rindergämse vom gegenüberliegenden Ufer und fühlt sich dort sicher. Da nun aber auf der Dorfseite immer mehr Menschen zusammenkommen, kriegt es der Takin mit der Angst, flüchtet durch den Fluss und greift den einzelnen Mann prompt an. Eine Hornspitze schlitzt einen Schenkel auf.

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Der Eingang zur „Takin-Höhle“ auf dem Weg zur Biologischen Station.

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Der Boden der Höhle ist mit Takin-Kot bedeckt.

Das ist also die Wilde-Tiere-Leute-Unfall-Bilanz der letzten Jahre für die Umgebung der Sanguanmiao-Station: kein Touri, der durch wilde Tiere körperlich zu Schaden gekommen wäre; sechs verletzte Einheimische durch Takin-Angriffe zwischen 2002 und 2010; eine äußerlich unbeschädigte Ausländerin, vermutlich am Rande einer Panikattacke, nachdem sie bei der Station in einen Kragenbären stolpert. Das hatte ich mir alles in der Pause erzählen lassen und kombiniere jetzt: Wenn ich alleine den Bambus-Wald betrete, muss ich mir nicht vorwerfen lassen, lebensmüde zu sein.

Aber man kann so einen Solo-Dschungel-Trip noch so rational angehen, sie kommt doch: Ich habe sechs Abschnitte zuvor von „Respekt“ gesprochen, nennen wir es nun „Angst“. Ja, sie ist da, aber immerhin ist sie nicht lähmend, sonst ginge ich nicht weiter. Ich weiß die Angst ist da, weil ich singe. In Kanada kriegt man das im Bärenland empfohlen, und es ging immer alles gut. Warum soll das hier nicht bei Kragenbären helfen? Oder Takinen? Es geht nicht darum, tierischen Menschenfressern den Appetit zu verderben, sondern nur darum, auf sich aufmerksam zu machen, um die Tiere nicht zu erschrecken, die sonst im Affekt und zur Selbstverteidigung schlagen und beißen.

Ich finde eine geeignete, spurengezeichnete Kreuzung, wo ein Seitental in das Tal mündet, in dem ich aufgestiegen bin. Hier kauere ich mich oben am Hang wie ein Asiate zusammen, lege dabei die Oberarme über die exponierten Knie, um sie so zusätzlich vor dem Nieselschnee, der eingesetzt hat, zu schützen. Hinter meinem Fotostativ lauere ich auf wilde Tiere bis in die Dämmerung. Am Ende der Sitzung ist klar – Biodiversitäts-Hotspot hin und her – kein Bär, kein Takin-Bock, keine Bambusratte hat Lust, bei so einem Sauwetter unterwegs zu sein. Ich fühle mich wie kalte Reissuppe und pirsche mich auf dem Weg zurück zur Station gerne wieder warm. Gewonnene Erkenntnis: Wildnis zu leben, kann auch bedeuten, vor Ort in Gedanken durchzuspielen, welche wilden Tiere unterwegs sein könnten.

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Die zoologische Station Sanguanmiao

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Ich krieg „geschimpft“, weil ich nicht rechtzeitig zum Essen zurück bin, das täglich um Fünf aufgetischt wird. Ich entschuldige mich. Zum Glück hat mir die Küchenfrau eine große Schüssel mit Reis und Gemüse beiseite gestellt, dazu ein Tsingtau-Bier. Die Flasche ist schnell leer und nun lerne ich noch ein Kapitel zur Nachhaltigkeitssituation der Station.

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Im Gebäude hinten wird heißes Wasser zubereitet, das dann in Thermoskannen abgefüllt und auf die Zimmer verteilt wird.

Im Prinzip läuft es hier sehr vorbildlich: der Strom wird auf der Station mittels Wasserkraft selbst produziert, zumindest ein Solarmodul auf einem der Dächer heizt Wasser auf, eine Heizung gibt es auf den Zimmern keine, dafür eine Decke mehr (morgens am Bett messe ich 9°C; Schlafmütze ist angebracht!). Der Mann, der sonst für den Pferdetransport zuständig ist, hat auf der Station den Job, über einem Holzofen Heißwasser zuzubereiten. Das füllt er in große Thermoskannen ab, die jeder der Gäste mitnehmen kann. Das muss reichen. Reicht auch – auch zum Waschen. Einige Lebensmittel wie Eier und Chilli kommen hier aus dem Tal, alles andere muss auf Pferderücken acht Kilometer von der nächsten Straße zur Station gebracht werden – auch die schweren Bierflaschen. Und meine wird nun gerade entsorgt: angehoben – Fenster auf – lockere Schwingbewegung – klirr! – Fenster zu. Nein, ich glaube es nicht! Ich stehe sofort auf und schaue zum Fenster raus. Tatsächlich, es ist hier die Außenfassade, da kommt normalerweise keiner vorbei, draußen ein Scherbenhaufen; von den Rändern her, leicht zugewachsen. Das macht die schon eine Weile so.

Anderntags wecken Rotschnabel-Schweifkittas (Urocissa erythrorhyncha). Frühstück um Acht: mit Reissuppe, drei Schalen Gemüse und eine Dampfnudel. Auf einer Fensterbank der Station liegt das Tages-Proviant aus: Cracker, Wurst in rosa Pelle, bunte Bonbons und ein gekochtes Ei. Nur das Ei lacht mich an. Und auf geht’s zur Panda-Pirsch! Kein langer Marsch, nur etwa einen Kilometer von der Station entfernt, entdeckt Rolph einen Tatzenabdruck. Auch bei der gestrigen Suche waren wir nur wenige Kilometer entfernt. Eine beruhigende Tatsache, oder zumindest ein Hinweis darauf, dass der Öko-Touri-Rummel die Tiere nicht vertreibt. Die Tracker, die andernorts gesucht hatten, werden per Funk herbeigerufen. Und dann heißt es wieder warten: eine Stunde lang, eine Stunde, die natürlich nicht reichen kann, all die Pflanzen- und Vogelspezies zu erfassen. Nächster Funkruf.

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Lagebesprechung mit Rolph

Wir sollen zurück zu einer Lichtung, die wir schon passiert haben. Solche offenen Flächen gibt es an ein paar Stellen. Hier dürfen die Einheimischen Hartriegel-Bäume kultivieren und die Beeren für medizinische Zwecke verkaufen – eine der wenigen Einkommensquellen, die den Leuten hier im Schutzgebiet noch erlaubt sind. Der Panda soll da jetzt irgendwo oberhalb am Hang sein. Die Tracker wollen ihn – indem sie sich vorsichtig auf ihn zu bewegen – nach unten treiben. Wir stehen an einem Buschrand mit etwa 20 Meter Seitenlänge. Genau hier soll der Bär ins Freie treten. Ich staune, dass es möglich sein kann, das Wildtier mit drei Mann so genau durchs Unterholz zu „steuern“. Aber ich werde hier heute noch mehr zu staunen bekommen.

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Ende Oktober hat es bereits bis in die Tallagen geschneit.

Wir alle machen uns nun für den Moment der Momente fertig. Einbeinstative werden ausgefahren; die Iso-Zahlen für die Sensorempfindlichkeit etwas zurückgeklickt, weil hier im Offenen mehr Licht einfällt; die Objektive werden alle in die eine Richtung ausgerichtet. So stehen wir fünf, zehn Minuten und dann – hüpft ein Blauschwanz (Tarsiger cyanurus) durchs Geäst. Die Kameras schwenken, schon klickt die erste, bald alle. Was soll man machen? Man nimmt eben mit, was man kriegen kann, denken sich die motivhungrigen Touristen. Keine Ahnung, ob es am wilden Foto-Geklicke gelegen hat – ein neuer Funkspruch: Der Bär hat es sich anders überlegt; er ist durch die Reihen der Spurensucher über den Rücken gestiegen und kommt auf der anderen Seite runter. Also: einpacken, Rucksäcke auf, Höhenzug umlaufen. Es folgt der gefährlichste Teil der Tour.

Natürlich will man nichts verpassen, weswegen Rolph jetzt Tempo macht. Der lehmige Pfad ist von den Packpferden ausgetreten; die Dielen, die an den schlimmsten Stellen ausgelegt sind, um tiefes Einsinken zu verhindern, sind schmierig. Und prompt schmiert einer ab. Nichts passiert, ist aber eine Warnung. Nach einer Viertelstunde kommen wir an den Bach. Wir kürzen durch das Bett ab. Der junge Mr. He denkt voraus: Er schaufelt Granitgrus mit beiden Händen und verteilt die Ladung auf den Trittstellen der Bachgerölle, über die wir die andere Seite erreichen sollen. Die Idee ist gut, kann aber nicht verhindern, dass nochmals einer stürzt. Wieder gut gegangen.

Auf der anderen Seite erreichen wir den Hauptpfad und damit den am besten ausgebauten Teil. Die Strecke ist teils komplett betoniert, teils liegen Betonplatten als Trittsteine aus. Das ganze ist asphaltiert mit einer dunkelbraunen Schicht aus Eichenblättern. Nun bin ich an der Reihe: Es zieht mir einen Fuß weg, ich kann mich aber fangen und spätestens jetzt wird mir klar: Drei Fastunfälle in einer halben Stunde, kein Arzt im Umkreis von zig Kilometern: mehr Risiko war nie. Da kann man die Takins vergessen.

Deswegen bremst unser Trupp allerdings nicht das Tempo. Und nach weiteren zehn Minuten stehen wir nun tatsächlich auf der anderen Seite des Höhenrückens. Rolph schart uns um sich. Flüsternd gibt er Anweisungen: Diesmal sollen wir uns entlang einer 50 Meter langen Linie entlang des Wegs verteilen, auf das der Panda diese Linie quert und hinter uns gut einsehbar durchs Bachbett watet. Das ist Öko-Touri-Roulette, denke ich: Spannung. Kommt er zwischen Position Eins und Zwei, stößt er auf mich auf Platz Drei oder triffst es die anderen ganz hinten? Aber wie schon gehabt, heißt es jetzt erst mal wieder Warten. Die Leute lauern vorbildlich, zunächst. Aber mit dem Auskühlen, kommt die Kälte und dann das Herumhampeln. Und da es Mittagszeit ist, knistern bald die ersten Keckstüten. Ich schlage gerade mein Ei auf, denke; Sind wir nicht zu laut? Da kommt der nächste Funkspruch: Weiter nach Süden.

Was soll’s? Das ist der Preis der Freiheit. Zootiere gucken kann jeder. Ein paar Hundert Meter weiter, stellen wir uns im Pulk an einer Felsnase auf. Die Leute mehr links schauen nach links, die anderen nach rechts. Ich kuschle mich an einen geneigten Stamm und döse. Gerade ist die Motivation so ein bisschen raus, da funkt’s schon wieder: Panda über den Grad zurück gewechselt. Also machen wir die Runde komplett, sind dann wieder auf der Lichtung, auf der wir schon waren. Dort sammeln und beraten wir uns als mir auf der anderen Seite wackelnde Bambushalme auffallen.

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Nur wenige Meter vor uns entfernt wackelt’s im Hain. Ein Panda kappt einen Bambusstängel an der Basis, zieht ihn nach unten und frisst ihn. Dann ist der nächste Stängel dran.

Die Halme bewegen sich nur gelegentlich, deshalb dauert es eine Weile bis alle in der Gruppe darauf aufmerksam werden. Schließlich bestätigt uns Rolph unseren Verdacht: Das ist ein Panda, ein anderer. Zur Abwechslung haben wir da ja mal richtig Glück. Wir kommen an und der Bär ist schon da. Jetzt muss er nur noch auf die Bühne, die Lichtung, treten. Wir stehen 20 Meter entfernt; der Bär hat sich bis auf drei Meter dem Bambuswaldrand genähert – aber noch ist er nicht zu sehen. Alle paar Minuten haben wir unsere Freude daran, wenn wieder ein Bambuswedel winkt, den der Bär dann einzieht, um die Blätter abzufressen.

So geht das eine ganze Stunde. Innerhalb dieser Zeit hat das Tier sich gerade zehn Meter weit bewegt. Warum sollte er auch mehr, er sitzt ja mitten im Fressen. Immerhin zeichnet sich eine Bewegungsrichtung ab. Also entschließen sich die drei Tracker, die mittlerweile zu uns gestoßen sind, den Bären von hinten zu umgehen, um ihn auf die Lichtung zu „drücken“. Sie laufen einen Bogen und bald schon kommt der Funkspruch, der in seinem ersten Teil so erstaunlich wie ernüchternd ist: Der Bär ist eingeschlafen.

Der zweite Teil der Meldung, die uns Rolph wie gehabt, flüsternd ins Englische übersetzt, ist für uns Bear-Watcher schlichtweg unfasslich. Es ist ein Vorschlag, der mit allem bricht, was ich mir in Sachen Tier-Beobachtung je ausgemalt habe: Wenn wir wollten, könnten wir nun einzeln zum funkenden Tracker vorstoßen und einen Blick auf den schlafenden Bären werfen. Wie bitte? Darauf waren wir alle nicht eingestellt. Und nur weil der geistesgegenwärtige Rolph in unsere verdutzten Gesicht fragt: „Ladies first?“ und wir ja nur eine Bärenpirscherin in der Gruppe haben, ist die Entscheidung schnell getroffen. Dann los, ins Schlafzimmer des Bären! „Lucky Elisabeth“ vorne weg.

Es sind ja nur ein paar Schritte, dann stehen wir schon am Rand des Bambusdickichts. Aber wie geht’s hier weiter? Wir bücken uns, um unter die Kronen der Gräser blicken zu können. Aber da ist nichts. Was ist denn mit den Kollegen im Busch? Da tut sich nichts mehr. Warum denn nicht? (Wie wir später analysieren, hat Rolph das Funkgerät versehentlich so leise gestellt, dass wir die Meldungen der Tracker nicht mehr empfangen können.)

In der Aufregung und Ratlosigkeit fangen wir an zu tuscheln. Und, keine Ahnung, ob das den Bären geweckt hat, plötzlich ist er einfach da. Keine fünf Meter von uns entfernt, tritt er ins Freie, weder schaut er zu uns rüber, noch zeigt er irgendwelche Zeichen von Aufgeregtheit. Er watschelt einfach über die freie Fläche, steigt ins Bachbett, ist dort einen Moment unentschlossen, dreht noch mal die Richtung. Dann schließt der Bambusvorhang hinter ihm. Das war’s.

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Da geht er hin. Foto: wildgiantpanda

15 Sekunden Bühnenauftritt: ein tapsender Bär. Gemessen an Naturfilm-Spektakeln ist das unspektakulär; kein Panda, der im Handstand Pipi macht (www.youtube.com/watch?v=006ip4ndThE), kein niesendes Pandababy, das seine Mutter erschrickt (www.youtube.com/watch?v=jQVjXPS0vMM). Es ist einfach nur ein Panda, der da langgeht. Aber w-i-r haben in gesehen. Wir. Und zwar wild. Und wir können und daran freuen – und mit uns die Chinesen. Und das ist das Wichtigste: dass sich auch die Einheimischen über ihren Bären freuen können – und ihnen bewusst wird, dass sie ihn schützen müssen, um durch ihn weiter ein Auskommen zu haben.

 

Weitere dokumentierte Säugetiere im Foping Reservat

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Rot-Weißes Riesengleithörnchen (Petaurista alborufus) –  Red and White Giant Flying Squirrel. ist mit knapp einem Meter Gesamtlänge eines der größten Hörnchen weltweit.

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Père-David-Rothörnchen (Sciurotamias davidianus) – Père David’s Rock Squirrel. Endemisch in China.

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Wildschweine haben in der Umgebung der Biologischen Station den Boden umgegraben. Die Einheimischen schützen ihre Gärten mit Bambuszäunen.

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Chinesischer Goral (Naemorhedus criseus) – Chinese Goral. Bekomme ich auf einer der Touren auch zu sehen. Foto: im Zoo Shanghai aufgenommen

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Goldstumpfnasen (Rhinopithecus roxellana) – Golden Snub-nosed Monkey. In der Wildnis …

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… und im Zoo Shanghai

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Swinhoe-Streifenhörnchen (Tamiops swinhoe) – Swinhoe’s Striped Squirrel. Zu unterscheiden von anderen Arten am schwarzen Mittelstrich und den flankierenden braunen Strichen.

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Chinesischer Muntjak (Muntiacus reevesi) – Reeves’s Muntjac auf der Flucht. Der recht ähnliche Schopfhirsch lebt ebenfalls im Foping Reservat.

 

Dokumentierte Vögel im Foping Reservat

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Stummelscherenschwanz (Enicurus scouleri) – Little Forktail

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Weißscheitel-Scherenschwanz (Enicurus leschenaulti) – Whitecrownd Forktail

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Fasan (Phasianus colchicum) – Common Pheasant

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Himalaya-Rotschwanz (Adelura frontalis) – Bluefronted Redstart

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Blauschwanz (Tapsiger cyanurus) – Orange-flanked Bush-Robin. Weibchen

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Goldfasan (Chrysolophus pictus) – Golden Pheasant. In unmittelbarer Umgebung der Biologischen Station …

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… und im Zoo von Shanghai. Unzweifelhaft einer der weltweit prächtigsten Vögel.

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Davids Alcippe? (Alcippe davidi) – David’s Fulvetta. Ein Endemit Chinas und Vietnams.

Ich bin während der Reise nicht perfekt mit Literatur zur Vogelbestimmung ausgestattet. In „Robson, Craig: A field guide to the birds of south-east Asia“ ist die Davids Alcippe nicht aufgeführt. Ich schaue auf der Homepage von „Wild Giant Panda“. Dort kann man eine Artenliste des Foping Reservats aufrufen – http://wildgiantpanda.info/bird/Bird019.htm

Aber auch dort ist die Davids Alcippe nicht vertreten. Daraufhin schaue ich nach weiteren Vogellisten im Netz um, bei Leuten, die das Foping Reservat ebenfalls besucht haben. Ich werde schließlich fündig bei http://creagrus.home.montereybay.com/China10-Foping.html

Dort ist ein Vogel abgebildet, der „meiner“ Davids Alcippe recht ähnlich ist. Allerdings reicht bei meinem Vogel das Orangebraun des Bauchs nicht hoch bis zur Brustregion. Angaben zu Unterschieden der Geschlechter habe ich nicht gefunden.

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Flusswasseramsel (Cinclus pallasii) – Brown Dipper. Die asiatische Variante zur europäischen Wasseramsel

Barred Laughingthrush, HŠaeherling

Wellen-HŠäherling (Garrulax lunulatus) – Barred Laughingthrush

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Rotschnabelkitta (Urocissa erythrorhyncha) – Red-billed Blue Magpie. Der englische Name verrät, dass der Kitta zu den Rabenvögeln gehört.

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Grauscheitelspecht (Dendrocopos canicapillus) – Gray-capped Woodpecker

Bekannter von Zuhause: Tannenhäher (Nucifraga caryocatactes, nutcrack)

Tannenhäher (Nucifraga caryocatactes) – Spotted Nutcrack. Bekannter von Zuhause.